Anfechtung der Annahme einer Erbschaft; Irrtum; Ausschlagung; Pflichtteilsanspruch

Leitsatz:

Auch nach der Neufassung des § 2306 Abs. 1 BGB mit Wirkung zum 1. Januar 2010 kann ein zur Anfechtung der Annahme einer Erbschaft berechtigender Irrtum vorliegen, wenn der mit Beschwerungen als Erbe eingesetzte Pflichtteilsberechtigte irrig davon ausgeht, er dürfe die Erbschaft nicht ausschlagen, um seinen Anspruch auf den Pflichtteil nicht zu verlieren. (amtlicher Leitsatz)

BGH, Urteil vom 29.06.2016 - IV ZR 387/15

BGB § 2306, § 119 Abs. 1

I. Einführung

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte Miterbin der verstorbenen Erblasserin geworden oder ob sie pflichtteilsberechtigt ist, weil sie nach Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist die Erbschaft wirksam ausgeschlagen hat.

Die Erblasserin, deren Ehemann vorverstorben war, hatte vier Kinder, darunter die Beklagte. Zwei Kinder waren vorverstorben. Der Kläger ist ein Enkel der Erblasserin. Sie hinterließ drei Testamente aus den Jahres 1994, 2007 und 2008. Im Testament vom 18. April 2007 setzte die Erblasserin die Beklagte zur Miterbin zu 1/4 ein und zugunsten des Klägers sowie seiner zwei Geschwister ein Vorausvermächtnis hinsichtlich des Hausgrundstücks in H. aus, welches sie in ihrem Testament vom 18. August 2008 wiederum mit einem Untervermächtnis unter anderem zugunsten der Beklagten in Höhe von 15.000 € belastete. Der Kläger wurde von der Erblasserin zum Testamentsvollstrecker bestimmt. Die Beklagte erhielt im März 2012 Kenntnis von den letztwilligen Verfügungen.

Mit Schreiben vom 12. Juni 2012 erklärte die Beklagte die Anfechtung der Versäumung der Ausschlagungsfrist und gleichzeitig die Erbausschlagung. In dem Schreiben heißt es unter anderem:

"Ich wollte die Erbschaft in Wirklichkeit nicht annehmen, sondern habe die Frist zur Ausschlagung versäumt, weil ich in dem Glauben war, dass ich im Falle einer Ausschlagung vollumfänglich vom Nachlass ausgeschlossen wäre und zwar auch bzgl. von Pflichtteilsansprüchen und des zu meinen Gunsten eingeräumten Untervermächtnisses. Ich habe mich also über den rechtlichen Regelungsgehalt des § 2306 BGB geirrt, der zu einem Irrtum über die Rechtsfolgen der Nichtausschlagung führte."

In der Folgezeit forderte die Beklagte den Kläger unter Berufung auf ihren Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsanspruch zur Auskunft über den Bestand des Nachlasses auf. Dies lehnte der Kläger ab.

Der Kläger hat beantragt festzustellen, dass er in seiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker die Beklagte als Miterbin zu einem Anteil von 1/4 anzusehen und für den aufzustellenden Teilungsplan entsprechend zu berücksichtigen hat. Die Beklagte ist dem entgegengetreten und hat ihrerseits Widerklage mit dem Antrag erhoben, den Kläger zu verurteilen, die Zwangsvollstreckung wegen der Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche in den Nachlass zu dulden. Mit der Drittwiderstufenklage begehrt die Beklagte von den Erben sowie Beschenkten der Erblasserin in der ersten Stufe Auskunft und Wertermittlung.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben und die Widerklage

sowie die Drittwiderklage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die Beklagte sei Erbin zu 1/4 geworden. Sie habe die unstreitig erfolgte Versäumung der Ausschlagungsfrist des § 1944 BGB nicht wirksam angefochten.

Mit der Revision verfolgt sie ihre Anträge zur Klagabweisung, Widerklage und Drittwiderklage weiter.

II. Problem

Das Rechtsmittel war erfolgreich und führte zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

Nach Ansicht des BGH habe das Berufungsgericht das Vorliegen eines rechtlich erheblichen Irrtums der Beklagten zu Unrecht verneint.

Der Anfechtungsgrund ergebe sich hier aus § 119 Abs. 1 BGB. Ein Inhaltsirrtum im Sinne von § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB könne auch darin gesehen werden, dass der Erklärende über Rechtsfolgen seiner Willenserklärung irrt, weil das Rechtsgeschäft nicht nur die von ihm erstrebten Rechtswirkungen erzeugt, sondern solche, die sich davon unterscheiden. Ein derartiger Rechtsirrtum berechtige nach ständiger Rechtsprechung nur dann zur Anfechtung, wenn das vorgenommene Rechtsgeschäft wesentlich andere als die beabsichtigten Wirkungen erzeugt. Dagegen sei der nicht erkannte Eintritt zusätzlicher oder mittelbarer Rechtswirkungen, die zu den gewollten und eingetretenen Rechtsfolgen hinzutreten, kein Irrtum über den Inhalt der Erklärung mehr, sondern ein unbeachtlicher Motivirrtum (BGHZ 134, 152, 156).

Nach Feststellungen des Berufungsgerichts lag der Irrtum der Beklagten darin, dass sie fälschlich davon ausging, im Falle einer Ausschlagung keine Teilhabe am Nachlass, insbesondere keinen Pflichtteilsanspruch zu haben. Vielmehr habe sie gedacht, durch die Nichtausschlagung wenigstens das Untervermächtnis von 15.000 € zu erhalten.

Auf dieser Grundlage liege ein beachtlicher Inhaltsirrtum gemäß § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB i.V.m. § 2306 Abs. 1 BGB vor.

Der Senat hatte zu § 2306 Abs. 1 BGB a.F. entschieden, die irrige Vorstellung des unter Beschwerungen als Erbe eingesetzten Pflichtteilsberechtigten, er dürfe die Erbschaft nicht ausschlagen, um seinen Anspruch auf den Pflichtteil nicht zu verlieren, rechtfertige die Anfechtung einer auf dieser Vorstellung beruhenden Annahme einer Erbschaft. Für die Annahme durch Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist könne nichts Anderes gelten, gleich ob die Ausschlagungsfrist bewusst oder unbewusst nicht genutzt worden sei. Der Verlust des Pflichtteilsrechts als Rechtsfolge solchen Verhaltens präge dessen Charakter nicht weniger, als das Einrücken in die Rechtsstellung des Erben (Senatsbeschluss aaO).

Mit der Neufassung des § 2306 Abs. 1 BGB habe der Gesetzgeber die Differenzierung, ob der mit Beschränkungen oder Beschwerungen belastete Erbteil die Hälfte des gesetzlichen Erbteils übersteigt oder nicht, aufgegeben. Nunmehr müsse der Erbe, wenn er den Pflichtteil verlangen will, in jedem Fall den Erbteil ausschlagen (vgl. BT-Drucks. 16/8954 S. 20). Unterschiedlich werde die Frage beurteilt, ob die bisherige Rechtsprechung des Senats zur Irrtumsanfechtung zu § 2306 Abs. 1 BGB a.F. auch auf die Neuregelung übertragen werden kann.

Im Schrifttum werde vielfach angenommen, dass sich durch die Neufassung des § 2306 Abs. 1 BGB inhaltlich keine Änderungen zur bisherigen Rechtslage ergeben haben und der Erbe weiterhin dem beachtlichen Irrtum unterliegen könne, er dürfe die Erbschaft nicht ausschlagen, um seinen Anspruch auf den Pflichtteil nicht zu verlieren (so etwa MüKo-BGB/Leipold, § 1954 Rn. 10; Staudinger/Otte, § 2306 Rn. 7; Palandt/Weidlich, § 1954 Rn. 4; FA-Komm-ErbR/Lindner, § 2306 Rn. 15; Keim ZEV 2008, 161, 163; ders. MittBayNot 2010, 85, 87; Herzog/Lindner, ZFE 2010, 219, 222).

Demgegenüber vertrete ein anderer Teil des Schrifttums die Auffassung, an der bisherigen Rechtsprechung könne nicht festgehalten werden und ein Irrtum über die Annahme und/oder die unterlassene Ausschlagung rechtfertige keine Anfechtung mehr (Damrau/Riedel, Erbrecht § 2306 Rn. 46; Lange, DNotZ 2009, 732, 736; zweifelnd an der Fortgeltung der bisherigen Rechtsprechung ferner MüKo-BGB/Lange, § 2306 Rn. 28; Bamberger/Mayer, § 2306 Rn. 8; Bock in Kroiß/Ann/Meyer, Erbrecht § 2306 Rn. 24; Horn in Münchener Anwaltshandbuch Erbrecht § 29 Rn. 110; Birkenheier in juris PK-BGB § 2306 Rn. 104). Der Erbe könne nunmehr dem Gesetzestext hinreichend klar entnehmen, dass er, um den Pflichtteil verlangen zu können, zwingend ausschlagen müsse. Auf die Differenzierung nach der Größe des hinterlassenen Erbteils komme es nicht mehr an. Unterliege der Erbe hierzu einem Irrtum, so handele es sich um einen unbeachtlichen Motiv- oder Rechtsfolgenirrtum.

Die erstgenannte Auffassung trifft nach Auffassung des BGH zu. Auch nach der Neuregelung des § 2306 Abs. 1 BGB könnten sich zur Anfechtung wegen Inhaltsirrtums berechtigende Sachverhaltskonstellationen ergeben, auf die die Grundsätze des Senatsbeschlusses vom 5. Juli 2006 (BGHZ 168, 210) entsprechende Anwendung finden. Der mit Beschränkungen und Beschwerungen belastete Erbe - wie hier die Beklagte - werde im Regelfall nicht wissen, dass er die Erbschaft ausschlagen muss, um seinen Pflichtteilsanspruch nicht zu verlieren (Senatsbeschluss aaO Rn. 21 f.; Keim, MittBayNot 2010, 85, 87). Der Regelungsgehalt des § 2306 Abs. 1 BGB stehe gerade im Gegensatz zu dem sonstigen Grundsatz, dass die Erbausschlagung zum Verlust jeder Nachlassbeteiligung führt (vgl. § 1953 Abs. 1 und 2 BGB). Vielmehr komme es in derartigen Fällen in Betracht, dass ein mit Belastungen und Beschwerungen eingesetzter Erbe die Erbschaft nur deshalb nicht ausschlägt, weil er davon ausgeht, ansonsten keinen Pflichtteilsanspruch zu haben.

In diesem Fall spiele es auch keine Rolle, ob der Erbe die Erbschaft ausdrücklich annimmt oder lediglich durch Verstreichenlassen der Ausschlagungsfrist. Zu einem Irrtum über die Folgen der bewussten oder unbewussten Annahme der Erbschaft könne es nach neuem Recht umso mehr kommen, als der Erbe nunmehr unabhängig von der Größe des hinterlassenen Erbteils die Erbschaft immer ausschlagen muss, um den Pflichtteil verlangen zu können. Nach früherem Recht war eine derartige Ausschlagung nicht erforderlich, wenn die Höhe des hinterlassenen Erbteils die Hälfte des gesetzlichen Erbteils nicht übersteigt.

Jedenfalls sei die Gefahr eines derartigen Irrtums durch die Neuregelung nicht verringert worden.

Der Gesetzgeber habe zwar durch die Änderung des § 2306 Abs. 1 BGB mit der Aufgabe der Differenzierung nach der Größe des hinterlassenen Erbteils für mehr Rechtsklarheit gesorgt. Dies ändert aber nichts daran, dass der mit Beschränkungen und Belastungen beschwerte Erbe auch weiterhin eine wirtschaftliche Abwägung dahin treffen muss, ob er den mit Beschränkungen oder Beschwerungen belasteten Erbteil annimmt oder diesen ausschlägt und den Pflichtteil verlangt. Um einen bloßen Kalkulationsirrtum handelt es sich hierbei nicht. Da es sich bei dieser Entscheidung um zwei Seiten derselben Medaille handelt, sei eine Anfechtung wegen Inhaltsirrtums vielmehr weiterhin möglich, wenn der Erbe irrig annimmt, im Falle einer Ausschlagung keinerlei Teilhabe am Nachlass, insbesondere keinen Pflichtteilsanspruch, mehr zu haben.

Das Berufungsurteil erwies sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig.

Die Sache wurde für weitere Feststellungen an das das Berufungsgericht zurückverwiesen. Insbesondere war noch aufzuklären, ob die Beklagte vor Ablauf der Ausschlagungsfrist des § 1944 Abs. 1 BGB einem Irrtum unterlegen ist, sowie ob sie bereits Kenntnis von ihrem Irrtum vor Ablauf der Anfechtungsfrist des § 1954 Abs. 1 BGB hatte.

III. Fazit

Oftmals gehen Erben davon aus, dass sie bei einer Ausschlagung der Erbschaft jegliche Teilhabe am Nachlass, insbesondere einen möglichen Pflichtteilsanspruch verlieren. Nehmen sie aufgrund dieser Vorstellung die Erbschaft an oder lassen die Ausschlagungsfrist verstreichen, stellt sich später oftmals die Frage, ob die Annahme der Erbschaft angefochten werden kann.

Der BGH stellt hierzu klar, dass auch nach neuer Rechtslage in diesen Fällen ein beachtlicher Inhaltsirrtum i.S.v. § 119 Abs. 1 Alt. 1 BGB i.V.m. § 2306 Abs. 1 BGB vorliegen kann. Den davon abweichenden Ansichten erteilt der BGH vorliegend eine Absage. Es sei weiterhin möglich, dass ein mit Belastungen und Beschwerungen eingesetzter Erbe die Erbschaft nur deshalb nicht ausschlägt, weil er irrig davon ausgeht, ansonsten keinen Pflichtteilsanspruch zu haben.


Rezension des Urteils des BGH v. 29.06.2016 - IV ZR 387/15 - OLG Stuttgart „Anfechtung der Annahme einer Erbschaft / Irrtum / Ausschlagung / Pflichtteilsanspruch", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.10 Oktober 2016, S.605 ff


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