Erbausschlagung; Anfechtung; Irrtum; Überschuldung
Redaktioneller Leitsatz:
- Die irrtümliche Annahme, der Nachlass sei überschuldet, stellt einen Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB dar, wenn der Irrtum nicht nur auf einer unzutreffenden Bewertung der dem Erklärenden bekannten Nachlassgegenstände, sondern vielmehr auf einer unrichtigen Vorstellung über die Zusammensetzung des Nachlasses beruhte.
- Die Angabe in der Ausschlagungserklärung, keine Angaben zum Wert des Nachlasses machen zu können, steht einem Irrtum über den Wert des Nachlasses nach § 119 Abs. 2 BGB nicht entgegen.
KG (6. Zivilsenat), Beschluss vom 20.02.2018 - 6 W 1/18
BGB §§ 119 Abs. 2, 1942, 1945 Abs. 1, 1955 S. 2
I. Einführung
Die Beteiligten zu 1) und 2) sind die einzigen Kinder des im Jahre 2016 verstorbenen Erblassers aus seiner ersten Ehe. Sie begehren die Erteilung eines Erbscheins, der sie zu gesetzlichen Erben zu je 1/2 ausweist. Der Erblasser hat seine zweite Ehefrau überlebt und mit dieser ein gemeinschaftliches notarielles Testament errichtet, in dem sich die Eheleute gegenseitig zu Alleinerben einsetzten.
Bei dem Nachlassgericht ist eine notariell beglaubigte Erbausschlagungserklärung des Beteiligten zu 1) eingegangen. Darin erklärte er die Erbausschlagung vorsorglich aus sämtlichen Berufungsgründen und gab an, dass er zum Nachlasswert keine Auskunft erteilen könne. Die Beteiligte zu 2) gab für sich und ihren Sohn gleichlautende notariell beglaubigte Erbausschlagungserklärungen ab.
Danach erschien Frau V. bei dem Nachlassgericht und erklärte, die Vorsorgebevollmächtigte des Erblassers gewesen zu sein. Sie übergab neun Schlüssel für das vom Erblasser gemietete Reihenhaus sowie diverse Unterlagen, aus denen sich ergab, dass ein Aktivnachlass von über 50.000,- EUR vorhanden ist.
Die bestellte Nachlasspflegerin hat sodann das Nachlassverzeichnis vorgelegt, wonach ein reiner Nachlass von 42.218,77 Euro vorhanden war.
Daraufhin haben die Beteiligten zu 1) und 2) ihre Ausschlagungserklärungen aus allen Gründen, insbesondere wegen Irrtums, angefochten. Der Beteiligte zu 1) hat angegeben, die Vorsorgebevollmächtigte habe ihm den Zutritt zur Wohnung seines Vaters und die Herausgabe der Wohnungsschlüssel verweigert. Sie habe sich darauf berufen, seit über 20 Jahren im Haushalt seines Vaters tätig zu sein, noch offene Forderungen gegen seinen Vater zu haben und gesagt, alles Weitere sei vom Gericht zu klären. Weitere Auskünfte habe sie verweigert. Da er innerhalb der sechswöchigen Ausschlagungsfrist keine Möglichkeit gehabt habe, sich über die verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses zu informieren, habe er davon ausgehen müssen, dass der Nachlass im Wesentlichen aus der Wohnungseinrichtung und etwaigen Verbindlichkeiten gegenüber der Vorsorgebevollmächtigten und dem Wohnungsvermieter besteht. Erst aus der Nachfrage der Nachlasspflegerin nach weiteren Verwandten seines Vaters habe sich ergeben, dass der Nachlass weitere Wertgegenstände umfasste, die den Wert der Wohnungseinrichtung erheblich überstiegen, so dass er nicht überschuldet, sondern werthaltig ist. Er fühle sich durch das Verhalten der Vorsorgebevollmächtigten bewusst getäuscht. Die Beteiligte zu 2) hat angegeben, von den Informationen ihres Bruders ausgegangen zu sein und sich deshalb ebenfalls in einem Irrtum über die verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses befunden zu haben.
Den Erbscheinsantrag hat das Nachlassgericht mit dem angefochtenen Beschluss zurückgewiesen mit der Begründung, ein zur Anfechtung berechtigender Irrtum scheide aus, weil die Formulierung in den Ausschlagungserklärungen (“Zum Nachlasswert kann ich keine Auskunft erteilen”) vermuten lasse, dass die Ausschlagungen unabhängig von der Höhe des Nachlasses vorgenommen worden seien. Außerdem handele es sich bei den angegebenen Gründen um Umstände, die nicht aus der jeweiligen Urkunde selbst ersichtlich und nicht allgemein bekannt seien und daher zur Auslegung nicht herangezogen werden könnten.
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Beteiligten, mit der sie ihren Antrag auf Erteilung des beantragten Erbscheins weiter verfolgen. Das Nachlassgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen.
II. Problem
Die Beschwerde der Beteiligten war nach Ansicht des KG gemäß §§ 58 ff. FamFG zulässig und auch in der Sache erfolgreich.
Die Beteiligten seien je zur Hälfte gesetzliche Erben erster Ordnung geworden (§ 1924 Abs. 1 BGB). Zwar hätten Sie das Erbe gemäß §§ 1942 ff. BGB zunächst ausgeschlagen mit der Wirkung, dass der Anfall der Erbschaft als nicht erfolgt gelte (§ 1953 Abs. 1 BGB). Diese Ausschlagungserklärungen hätten sie jedoch wirksam angefochten mit der Wirkung, dass die Anfechtung als Annahme gelte (§ 1957 Abs. 1 BGB).
Die formgerechten Anfechtungserklärungen seien fristgerecht bei dem Nachlassgericht eingegangen. Denn die Beteiligten hätten erst durch das Schreiben der Nachlasspflegerin und das persönliche Gespräch des Beteiligten zu 1) mit ihr erfahren, dass der Aktivnachlass nicht nur aus der Wohnungseinrichtung bestand, sondern noch weitere Wertgegenstände umfasste, und deren Wert vorhandene Verbindlichkeiten überstieg, der Nachlass also nicht überschuldet war.
Entgegen der Ansicht des Nachlassgerichts stehe den Beteiligten auch ein Anfechtungsrecht gemäß § 119 Abs. 2 BGB zu.
Die irrtümliche Annahme, der Nachlass sei überschuldet, stelle einen Irrtum über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses im Sinne des § 119 Abs. 2 BGB dar, wenn der Irrtum nicht nur auf einer unzutreffenden Bewertung der dem Erklärenden bekannten Nachlassgegenstände, sondern vielmehr auf einer unrichtigen Vorstellung über die Zusammensetzung des Nachlasses beruhe, wenn also der Erbe nur deshalb von einer Überschuldung ausgehe, weil er - wie vorliegend - keine Kenntnis von einem weiteren werthaltigen Nachlassgegenstand hatte (vgl. BGH NJW 1989, 2885; OLG Stuttgart FamRZ 2009, 1182 - 1183, zitiert nach juris, dort Rdz. 26; BayObLG NJW 2003, 216; OLG Düsseldorf NJW-RR 2009, 12; vgl. auch Ellenberger in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, § 119 Rdnr. 27 m.w.N.).
Die Beteiligten hätten sich bei Abgabe ihrer Ausschlagungserklärungen über eine verkehrswesentliche Eigenschaft des Nachlasses geirrt. Sie glaubten, der Nachlass sei überschuldet, nachdem die Vorsorgebevollmächtigte und Erbschaftsbesitzerin den Zutritt zur Erblasserwohnung und die Herausgabe von Schlüsseln unter Berufung darauf verweigerte, dass sie seit über 20 Jahren im Haushalt des Erblassers tätig sei, sie noch Forderungen gegen den Erblasser habe und alles Weitere vom Gericht zu klären wäre. Unter den von den Beteiligten geschilderten Umständen sei es nachvollziehbar, dass sie glaubten, es sei zum Zeitpunkt des Erbfalls kein Geldvermögen vorhanden gewesen, um die Schulden zu begleichen, und diesen Schulden stünde auf der Aktivseite lediglich die Wohnungseinrichtung gegenüber. Denn das von dem Erblasser bewohnte Reihenhaus sei lediglich gemietet gewesen, weiteres gegenständliches Aktivvermögen außer der Wohnungseinrichtung sei ihnen nicht bekannt gewesen, und aus der Sicht der Beteiligten hätten sich die offenen Verbindlichkeiten gegenüber der Vorsorgebevollmächtigten nur damit erklären lassen, dass kein ausreichendes Geldvermögen zu deren Begleichung vorhanden gewesen sei.
Die Annahme der Überschuldung sei jedoch unzutreffend gewesen, weil - wovon die Beteiligten im Erklärungszeitpunkt keine Kenntnis gehabt hätten - zum Aktivnachlass tatsächlich ein Bankguthaben von über 53.000 Euro gehörte, das die Forderungen der Vorsorgebevollmächtigten weit überstieg.
Der Irrtum sei auch kausal für die Ausschlagungserklärungen gewesen. Die Kausalität des Irrtums für die abgegebene, angefochtene Ausschlagungserklärung sei danach zu beurteilen, ob der Erklärende bei Kenntnis der Sachlage und verständiger Würdigung des Falles die Ausschlagung nicht erklärt hätte. Dies sei hier anzunehmen, da die Beteiligten im Falle der Kenntnis vorhandenen Geldvermögens nicht von einer Überschuldung des Nachlasses ausgegangen wären.
Der Senat teilte nicht die Ansicht des Nachlassgerichts, ein entsprechender Irrtum der Beteiligten könne vorliegend schon deshalb nicht festgestellt werden, weil die Beteiligten in ihren Ausschlagungserklärungen angegeben haben, sie könnten zum Nachlasswert keine Auskunft erteilen. Dabei handele es sich, wie das Wort “Auskunft” zeigte, um eine bloße Angabe zum - nicht bekannten - Wert, der u. a. für die Berechnung der Gebühren des beglaubigenden Notars von Bedeutung sei; daraus könne hingegen nicht gefolgert werden, dass ihnen die Höhe des Nachlasses bzw. die Höhe des auf sie entfallenden Erbteils gleichgültig gewesen wäre. Die Beteiligten hätten weder in den Anfechtungserklärungen noch in den Ausschlagungserklärungen Angaben gemacht, aufgrund derer der geltend gemachte Irrtum verneint werden müsste. Abgesehen davon setze die Anfechtung gemäß § 119 Abs. 2 BGB keine ausdrückliche Benennung des Irrtums bei Abgabe der Erklärung voraus; ausreichend, aber auch notwendig sei vielmehr, dass die angefochtene Erklärung tatsächlich auf einem entsprechenden Irrtum beruhte und dass dies aufgrund der Umstände des Einzelfalles zur notwendigen Überzeugung des Gerichts festgestellt werden kann. Dies sei vorliegend der Fall.
III. Fazit
Die Entscheidung zeigt die Notwendigkeit einer exakten Formulierung der Ausschlagungserklärung, um sich eine ggf. notwendige, spätere Anfechtung derselben offen zu halten.
Nach der vorliegenden Entscheidung führt jedoch die pauschale Aussage in der Ausschlagungserklärung “Zum Nachlasswert kann ich keine Auskunft erteilen” nicht zum Ausschluss einer Anfechtung wegen eines Irrtums über den Wert des Nachlasses nach § 119 Abs. 2 BGB.
Dabei handelt es sich nach der Ansicht des KG um eine bloße Angabe zum nicht bekannten Wert des Nachlasses. Hingegen könne daraus nicht gefolgert werden, dass die Höhe des Nachlasses gleichgültig gewesen ist.
Rezension des Beschlusses des KG v. 20.02.2018 - 6 W 1/18 „Erbausschlagung / Anfechtung / Irrtum Überschuldung", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.1 Januar 2019, S.56 f