Internationale Zuständigkeit, EuErbVO, gewöhnlicher Aufenthalt
Leitsatz:
Bei sog. Grenzpendlern (hier: zwischen Deutschland und Polen) bestimmt sich die internationale Zuständigkeit in Erbsachen ab dem 17.08.2015 nach Art. 4 ff EuErbVO und damit grundsätzlich nach dem letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers. Letzterer ist unter Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der persönlichen familiären Eingliederung des Erblassers in den (Aufenthalts-)Mitgliedstaat unter Berücksichtigung der Erwägungsgründe 23 und 24 der EuErbVO zu bestimmen. Dies kann dazu führen, dass der gewöhnliche Aufenthalt eines bejahrten Grenzpendlers, der im Zweitstaat nicht integriert ist, beim Erststaat verbleibt, obwohl dieser keinen Wohnsitz mehr dort hat. Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich dann nach nationalem Recht und knüpft gem. § 343 Abs. 2 FamFG n. F. an den letzen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland an. (amtlicher Leitsatz)
KG, Beschluss vom 26.04.2016 - 1 AR 8/16
FamFG, §§ 97, 343 Abs. 2 i. d. F. v. 29.06.2016
EuErbVO Art. 4
InterErbRVG § 42 Nr. 2
I. Einführung
Die Amtsgerichte Pankow-Weißensee und Wedding streiten über die Zuständigkeit in einem Nachlassfall mit Auslandsberührung. Der Erblasser hatte bis Februar 2010 seinen Erstwohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Bezirk des Amtsgerichts Wedding. Ab diesem Zeitpunkt bezog er eine Wohnung in einer Lagerhalle im westpolnischen G unweit der Oder und behielt lediglich für „Meldezwecke” einen Zweitwohnsitz bei seiner Tochter in Berlin-Pankow bei. Dort hielt er sich aber nie auf. Von seiner Wohnung in Polen aus war er im fortgeschrittenen Rentenalter als Bauunternehmer und -berater in seinem bisherigen Tätigkeitsbereich Berlin-Brandenburg tätig, um weiterhin Nebeneinkünfte zu erzielen. Anfang 2016 verstarb der Erblasser im Krankenhaus in B. Die Tochter des Erblassers schlug die Erbschaft nach ihrem Vater aus und übergab eine Kiste mit Geschäftsunterlagen und den Schlüsseln für die Wohnung in G. Das Amtsgericht Pankow-Weißensse hat sich für unzuständig erklärt und die Sache gem. § 343 Abs. 2 FamFG an das Amtsgericht Wedding verwiesen. Das Amtsgericht Wedding hat sich ebenfalls für unzuständig erklärt und die Sache dem Kammergericht zur Entscheidung des Zuständigkeitsstreits vorgelegt (§ 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 FamFG).
II. Problem
Das Gericht entschied, dass eine „Verweisung” des Verfahrens über die Entgegennahme der Ausschlagung an das Amtsgericht Wedding einer gesetzlichen Grundlage entbehrt.
Das Nachlassgericht in Pankow-Weißensee sei für die Entgegennahme der Ausschlagungserklärung der Tochter des Erblassers gem. § 31 IntErbRVG i. V. m. Art. 13 EuErbVO zuständig, da diese als diejenige Person, die die Ausschlagung erklärt, in dessen Amtsbezirk ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat. Beim Verfahren über die Entgegennahme einer Ausschlagung eines Erbes handele es sich um eine Nachlasssache, die in die Zuständigkeit der Nachlassgerichte fällt. Das Verfahren über die Entgegennahme einer Ausschlagungserklärung sei jedoch erst mit der Aushändigung der Urschrift der Niederschrift der (Ausschlagungs-)Erklärung (nach der EuErbVO) bzw. der Weiterleitung der Erklärung an das zuständige Nachlassgericht (gem. § 1953 Abs. 3 S. 1 BGB) beendet. Ob dies geschehen ist, lasse sich dem in der Akte befindlichen Protokoll nicht entnehmen.
Es könne eine besondere örtliche Zuständigkeit gem. § 344 Abs. 4 FamFG gegeben sein, wenn im Gerichtsbezirk Pankow-Weißensee ein Bedürfnis zur Sicherung des Nachlasses besteht. Ein solches Bedürfnis könne aber mangels nachvollziehbarer Angaben im Hinblick auf die Art und Beschaffenheit der übergebenen Gegenstände nicht festgestellt werden.
Im Zusammenhang mit den weiteren Angaben der erbausschlagenden Tochter könne die Durchführung weiterer Nachlassverfahren (Sicherung des Nachlasses, Ermittlung der Erben, Eröffnung von Verfügungen von Todes wegen etc.) erforderlich sein.
Wegweisend und vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse und Feststellungen zu diesem Nachlassfall wies der Senat auf Folgendes hin:
Das Amtsgericht Wedding könne als örtlich zuständiges Nachlassgericht zu bestimmen sein. Seine Zuständigkeit folge aus § 343 Abs. 2 FamFG i. V. m. Art. 4 EuErbVO. Die Neufassung von § 343 FamFG sei zusammen mit der europäischen Erbrechtsverordnung (EuErbVO) zum 17. August 2015 in Kraft getreten.
Die internationale Zuständigkeit in Erbsachen für Erbfälle mit Auslandsbezug ab dem 17. August 2015 ergebe sich nunmehr grundsätzlich aus Art. 4 ff EuErbVO i. V. m. § 97 FamFG. Die EuErbVO sei ein europäischer Rechtsakt, der Vorrang vor den Vorschriften des FamFG habe (§ 97 FamFG). Durch die Anwendung der EuErbVO solle ein Gleichlauf des anwendbaren Erbrechts mit dem Recht des (Aufenthalts-)Mitgliedstaates des Erblassers im Todeszeitpunkt - abgesehen von den Fällen der Rechtswahl und der Prorogation - hergestellt werden (vgl. Palandt-Weidlich, § 1960, RdNr. 8; § 2353, RdNr. 6 ff). Nach Art. 4 EuErbVO sei hinsichtlich der Gerichtszuständigkeit nicht zwischen streitiger und freiwilliger Gerichtsbarkeit zu unterscheiden und an den letzten gewöhnlichen Aufenthalt des Erblassers anzuknüpfen. Dieser könne im vorliegenden grenzüberschreitenden Fall entweder in Polen oder in Deutschland gelegen haben. Der letzte gewöhnliche Aufenthalt sei in diesem Zusammenhang entsprechend dem Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Verordnung über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung (vgl. hierzu Hess in Dutta/Herler, Die Europäische Erbrechtsverordnung, 2014, S. 134 f m. w. N.) unter Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere der persönlichen und familiären Eingliederung des Erblassers in den (Aufenthalts-)Mitgliedstaats zu bestimmen. Darüber hinaus seien für eine Auslegung die Erwägungsgründe 23 und 24 der EuErbVO heranzuziehen (vgl. Geimer/Schütze/Wall, IRV, RdNr. 6, 54 ff zu Art. 4 EuErbVO). Maßgebend bei der Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts sei danach der „Mittelpunkt des Lebensinteresses des Erblassers”. Dies erfordere eine Gesamtbeurteilung der Lebensumstände des Erblassers in den Jahren vor seinem Tod und im Zeitpunkt seines Todes unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen, insbesondere der Dauer und der Regelmäßigkeit des Aufenthalts des Erblassers im Zweitstaat.
Vorliegend spreche eine weit überwiegende Gesamtheit von Umständen dafür, dass der Erblasser seinen Lebensmittelpunkt im dargestellten Sinne bis zu seinem Tod in Deutschland hatte. Die Erwägungsgründe 23 und 24 zur EuErbVO würden konkrete Merkmale aufführen, nach denen der gewöhnliche Aufenthalt in solchen Fällen eines „Grenzpendlers” zu bestimmen ist. Bei sog. Grenzpendlern solle es beim Herkunftsstaat als gewöhnlicher Aufenthalt bleiben, wenn dort der familiäre und soziale Schwerpunkt des Erblassers verblieb. So sei es im vorliegenden Fall:
Die Familie des Erblassers, der erst im Jahr 2010 im Alter von 72 Jahren seinen Erstwohnsitz in Berlin-R aufgegeben hatte, verblieb im Raum Berlin-B. Dieser unterhielt die üblichen familiären Kontakte unverändert bei. In der Wohnung der Tochter in Berlin-Pankow behielt er einen Zweitwohnsitz lediglich für „Meldezwecke“ bei, ohne sich dort jedoch tatsächlich aufzuhalten. Eine Integration am neuen Wohnort in G (Polen) - unweit der deutsch-polnischen Grenze bei K (Oder) - erfolgte kaum. Der Erblasser sprach kein polnisch. In das Dorf- und Vereinsleben war er nicht integriert. Persönliche Kontakte beschränkten sich auf Unterhaltungen mit und Anweisungen an ortsansässige Hilfskräfte und gelegentliche Gespräche mit dem deutschkundigen Ortspfarrer. Eine neue Familie gründete er in Polen nicht. Ärzte und Krankenhäuser suchte der Erblasser nur in Deutschland auf.
Der Erblasser erzielte sämtliche Einkünfte (Renten, Einnahmen aus selbstständiger Tätigkeit im Baugewerbe) in Deutschland. Konten unterhielt er weiterhin in Deutschland. Praktisch täglich überquerte er im Rahmen seiner Tätigkeit im Baugewerbe die Oder, um an seine Baustellen und zu seinen Kunden zu gelangen. Die Entscheidung für die Anmietung des Teils einer Lagerhalle in G mit eingebauter Wohnung erfolgte ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen (deutlich günstigere Miete als in Deutschland) und Zweckmäßigkeitserwägungen (dennoch kurze Wege zu den Kunden in Berlin-B). Es bestand unverändert eine besonders enge und feste Bindung an den Heimatstaat des Erblassers (vgl. Geimer/Schütze/Wall a. a. O. RdNr. 54).
Die örtliche Zuständigkeit des Amtgerichts Wedding folge aus § 47 Nr. 2 i. V. m. § 2 Abs. 4 IntErbRVG, Art. 4 EuErbVO, § 343 Abs. 2 FamFG n. F., da es sich um eine Angelegenheit der freiwilligen Gerichtsbarkeit handelt. Weil der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt i. S. v. Art. 4 EuErbVO in Deutschland hatte, folge die örtliche Zuständigkeit des Amtsgerichts Wedding gem. § 343 Abs. 2 FamFG n. F. aus dem Umstand, dass der Erblasser in dessen Bezirk seinen letzten (tatsächlichen) Aufenthalt im Inland hatte.
III. Fazit
Die Vorliegende Entscheidung des KG zu einem Zuständigkeitsstreit ist inbesondere aufgrund ihrer weiterführenden Ausführungen zum gewöhnlichen Aufenthalt i.S.v. § 4 EuErbVO interessant.
Die internationale Zuständigkeit in Erbsachen für Erbfälle mit Auslandsbezug ab dem 17. August 2015 ergibt sich grundsätzlich aus Art. 4 ff EuErbVO i. V. m. § 97 FamFG. Zentraler Anknüpfungspunkt ist der letzte gewöhnliche Aufenthalt des Erblassers.
Im Rahmen der Ermittlung ist eine umfassende Betrachtung der Umstände im Einzelfall vorzunehmen. Der Wohnsitz des Erblassers ist hierbei nur eines von vielen Kriterien. Ebenso ist auf die familiären, öknomischen und sozialen Schwerpunkte, verschiedene soziale Kontakte, Sprachkenntnisse, Erzielung der Einkünfte, Aufenthalte, Reisen und die Teilnahme am Orts- und Vereinsleben abzustellen.
Rezension des Beschlusses des KG v. 26.04.2016 - 1 AR 8/16 „Internationale Zuständigkeit / EuErbVO / Gewöhnlicher Aufenthalt", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.8 August 2016, S.489 ff