Nationaler Erbschein; Zuständigkeit; EuErbVO

Leitsatz:

Art. 4 der EuErbVO ist dahin auszulegen, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, die vorsieht, dass, auch wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in diesem Mitgliedstaat hatte, dessen Gerichte ihre Zuständigkeit für die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug behalten, wenn Nachlassvermögen auf dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats belegen ist oder der Erblasser dessen Staatsangehörigkeit besaß.

EuGH, Urteil vom 21.06.2018 - C-20/17 ­- Oberle

EuErbVO Art. 4, 13, 21, 23
FamFG § 105

I. Einführung

Der französische Staatsangehörige Oberle (der Erblasser), dessen letzter gewöhnlicher Aufenthalt in Frankreich war, verstarb am 28. November 2015 ohne Testament. Der Erblasser, dessen Ehefrau vorverstorben war, hinterließ zwei Söhne. Das Nachlassvermögen befindet sich in Frankreich und Deutschland.

Auf Antrag eines der Söhne stellte das Tribunal d’instance de Saint-Avold (Gericht erster Instanz, Frankreich) am 8. März 2016 einen nationalen Erbschein aus, in dem die Söhne jeweils zur Hälfte als Erben dieses Vermögens bestimmt wurden.

Beim Amtsgericht Schöneberg beantragte einer der Söhne die Ausstellung eines auf den in Deutschland belegenen Nachlassteil gegenständlich beschränkten Fremdrechts-Erbscheins, da er nach französischem Recht gemeinsam mit seinem Bruder jeweils zur Hälfte das Vermögen des Erblassers geerbt habe.

Nach Prüfung seiner Zuständigkeit gemäß Art. 15 EuErbVO hat sich das Amtsgericht Schöneberg für zur Entscheidung über diesen Antrag unzuständig erklärt. Die Vorschriften der §§ 105 und 343 Abs. 3 FamFG dürften nämlich für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit nicht herangezogen werden, da sie gegen Art. 4 EuErbVO verstießen, wonach für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig seien, in dem der Erblasser seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt hatte. Gegen diesen Beschluss legte der Sohn beim vorlegenden Gericht, dem Kammergericht, Beschwerde ein.

Das vorlegende Kammergericht erachtet das Amtsgericht Schöneberg wegen des Vorhandenseins von Nachlassvermögen im deutschen Bundesgebiet gemäß der Voraussetzung des § 343 Abs. 3 FamFG für international zuständig zur Ausstellung des beantragten beschränkten Erbscheins.

Nach Auffassung des Kammergerichts gibt es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Unionsverordnungsgeber über die Regelungen in Kapitel II der EuErbVO die internationale Zuständigkeit für die Erteilung der nationalen Erbnachweise abschließend bestimmen wollte, wie er es hinsichtlich des Europäischen Nachlasszeugnisses in Art. 64 Abs. 1 EuErbVO getan habe.

Wenn nämlich die internationale Zuständigkeit für die Erteilung des Europäischen Nachlasszeugnisses bereits durch die Bestimmungen des Kapitels II der EuErbVO geregelt wäre, so wäre es für den Verordnungsgeber überflüssig gewesen, diesbezüglich eine spezielle Bestimmung, nämlich Art. 64 Abs. 1, vorzusehen. Wenn der Verordnungsgeber die internationale Zuständigkeit für den Erlass der nationalen Erbscheine genauso wie die internationale Zuständigkeit für das Europäische Nachlasszeugnis hätte regeln wollen, dann hätte er in diese Verordnung eine mutatis mutandis Art. 64 Abs. 1 EuErbVO entsprechende Regelung für die nationalen Erbscheine aufgenommen.

Darüber hinaus habe das Amtsgericht Schöneberg im vorliegenden Fall zu Unrecht die Regelung des Art. 4 der EuErbVO angewendet. Die allgemeine Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, für „Entscheidungen in Erbsachen … für den gesamten Nachlass“ im Sinne dieser Bestimmung, betreffe nämlich nur den Erlass gerichtlicher Entscheidungen, während die nationalen Erbscheine keine solchen gerichtlichen Entscheidungen seien. Diese würden nämlich nach einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit ausgestellt, und der Beschluss zur Erteilung eines solchen Erbscheins enthalte lediglich Tatsachenfeststellungen, weshalb er nicht der Rechtskraft fähig sei.

Unter diesen Umständen hat das Kammergericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen

„Ist Art. 4 der EuErbVO dahin gehend auszulegen, dass damit auch die ausschließliche internationale Zuständigkeit für den Erlass der nicht vom Europäischen Nachlasszeugnis ersetzten nationalen Nachlasszeugnisse in den jeweiligen Mitgliedstaaten (vgl. Art. 62 Abs. 3 der EuErbVO) bestimmt wird, mit der Folge, dass abweichende Bestimmungen der nationalen Gesetzgeber hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit für die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse – wie z. B. in Deutschland § 105 FamFG – wegen Verstoßes gegen höherrangiges Europarecht unwirksam sind?“

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4 der EuErbVO dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats, wie der im Ausgangsverfahren, entgegensteht, die vorsieht, dass, auch wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in diesem Mitgliedstaat hatte, dessen Gerichte ihre Zuständigkeit für die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug behalten, wenn Nachlassvermögen auf dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats belegen ist oder der Erblasser dessen Staatsangehörigkeit besaß.

II. Problem

Zunächst stellte der EuGH fest, dass die EuErbVO gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit dem 9. Erwägungsgrund auf alle zivilrechtlichen Aspekte der Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwenden ist. Des Weiteren finde die Verordnung auf Erbfälle mit grenzüberschreitendem Bezug Anwendung, wie sich ihren Erwägungsgründen 7 und 67 entnehmen lasse. Ein solcher Fall liegt hier vor, da der Nachlass Vermögen umfasse, das in verschiedenen Mitgliedstaaten belegen ist.

Art. 4 der EuErbVO bestimme nach seinem Wortlaut die Zuständigkeit der Gerichte des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Erblasser im Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, für Entscheidungen in Erbsachen für den gesamten Nachlass. Diesbezüglich lasse zwar der Wortlaut dieser Bestimmung keinen Anhaltspunkt dafür erkennen, dass die Anwendung der dort aufgestellten allgemeinen Zuständigkeitsregel davon abhinge, dass ein Erbfall vorliegt, in den mehrere Mitgliedstaaten involviert sind. Nichtsdestotrotz gründet diese Regelung auf dem Vorliegen eines Erbfalls mit grenzüberschreitendem Bezug. Darüber hinaus lasse sich der Überschrift des Art. 4 der EuErbVO entnehmen, dass diese Vorschrift die Bestimmung der allgemeinen Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten regelt, während sich die innerstaatliche Zuständigkeitsverteilung gemäß Art. 2 EuErbVO nach den nationalen Regeln richte.

Aus dem Wortlaut dieses Art. 4 gehe hervor, dass sich die dort normierte allgemeine Zuständigkeitsregel auf „den gesamten Nachlass“ bezieht, was darauf hindeute, dass sie grundsätzlich auf alle Verfahren in Erbsachen vor den Gerichten der Mitgliedstaaten anwendbar sein soll. Es sei aber festzuhalten, dass sich allein anhand des Wortlauts des Art. 4 der EuErbVO nicht bestimmen lasse, ob sich der Charakter des Verfahrens als streitig oder nichtstreitig auf die Anwendbarkeit der in dieser Bestimmung vorgesehenen Zuständigkeitsregel auswirkt und ob unter dem Begriff „Entscheidungen“ im Sinne dieser Bestimmung nur der Erlass einer rein judiziellen Entscheidung zu verstehen ist.

Was aber die Analyse des systematischen Zusammenhangs dieser Bestimmung betrifft, gehe aus Art. 13 der EuErbVO hervor, dass außer dem gemäß der EuErbVO für die Rechtsnachfolge von Todes wegen zuständigen Gericht die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem eine Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, die nach dem auf die Rechtsnachfolge von Todes wegen anzuwendenden Recht eine Erklärung über die Annahme oder Ausschlagung der Erbschaft, eines Vermächtnisses oder eines Pflichtteils oder eine Erklärung zur Begrenzung der Haftung der betreffenden Person für die Nachlassverbindlichkeiten abgeben kann, für die Entgegennahme dieser Erklärungen zuständig sind.

So ziele dieser Art. 13 in Verbindung mit dem 32. Erwägungsgrund der EuErbVO auf die Vereinfachung der Amtswege der Erben und Vermächtnisnehmer ab, indem von den Zuständigkeitsregeln der Art. 4 bis 11 EuErbVO abgewichen wird. Folglich seien die gemäß Art. 4 der Verordnung für Entscheidungen in Erbsachen über den gesamten Nachlass zuständigen Gerichte grundsätzlich auch zur Entgegennahme von Erbenerklärungen zuständig. Demzufolge erfasse die Zuständigkeitsregel des Art. 4 auch solche Verfahren, die nicht zum Erlass einer judiziellen Entscheidung führen. Diese Auslegung finde im 59. Erwägungsgrund der EuErbVO Bestätigung, aus dem hervorgehe, dass ihre Bestimmungen unabhängig davon anwendbar sind, ob Entscheidungen über einen Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug in streitigen oder nicht streitigen Verfahren ergangen sind.

Somit bestimme Art. 4 der EuErbVO die internationale Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte für Verfahren über Maßnahmen in Erbsachen betreffend den gesamten Nachlass wie insbesondere die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse unabhängig vom streitigen oder außerstreitigen Charakter dieser Verfahren.

Diese Auslegung werde durch Art. 64 der EuErbVO nicht deshalb entkräftet, weil dieser vorsieht, dass das Europäische Nachlasszeugnis in dem Mitgliedstaat ausgestellt wird, dessen Gerichte nach den Art. 4, 7, 10 oder 11 der Verordnung zuständig sind. Für das durch die Bestimmungen in Kapitel VI der EuErbVO geschaffene Europäische Nachlasszeugnis gelte eine autonome rechtliche Regelung. In diesem Zusammenhang diene Art. 64 der Verordnung zur Klarstellung, dass sowohl die Gerichte als auch bestimmte andere Behörden für die Ausstellung eines solchen Nachlasszeugnisses zuständig sind, wobei er mittels Verweises auf die Zuständigkeitsregelungen der Art. 4, 7, 10 und 11 der Verordnung bestimmt, in welchem Mitgliedstaat diese Ausstellung stattzufinden hat. Unter diesen Umständen könne Art. 64 der EuErbVO nicht dahin ausgelegt werden, dass die nationalen Nachlasszeugnisse vom Anwendungsbereich der Zuständigkeitsregel des Art. 4 der Verordnung ausgeschlossen wären.

Daneben würde eine Anwendung des nationalen Rechts bei der Bestimmung der allgemeinen Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte für die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse dem im 27. Erwägungsgrund der EuErbVO erklärten Ziel dieser Verordnung zuwiderlaufen, das in der Sicherstellung der Kohärenz zwischen den Bestimmungen über die Zuständigkeit und denen über das in diesem Bereich anwendbare Recht liege.

Darüber hinaus werde im Einklang mit der im 59. Erwägungsgrund statuierten allgemeinen Zielsetzung der Verordnung, nämlich der gegenseitigen Anerkennung der in den Mitgliedstaaten ergangenen Entscheidungen in Erbsachen, im 34. Erwägungsgrund der Verordnung angeführt, dass in den verschiedenen Mitgliedstaaten keine Entscheidungen ergehen sollten, die miteinander unvereinbar sind. Dieses Ziel füge sich in den, insbesondere in Art. 23 Abs. 1 der EuErbVO, niedergelegten Grundsatz der Einheitlichkeit der Erbfolge ein, wonach dem gemäß dieser Verordnung anzuwendenden Recht „die gesamte Rechtsnachfolge von Todes wegen“ unterliegen soll. Dieser Grundsatz der Einheitlichkeit der Erbfolge liege auch der Regelung des Art. 4 der EuErbVO zugrunde, da auch dort vorgesehen sei, dass sich die Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte für Entscheidungen in Erbsachen „für den gesamten Nachlass“ nach dieser Regel richtet.

Eine Auslegung der Normen der EuErbVO, die eine Nachlassspaltung nach sich zöge, seien mit den Zielen dieser Verordnung unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Oktober 2017, Kubicka, C-21816, EUC2017755, Rn. 57). Da nämlich eines dieser Ziele in der Schaffung einer einheitlichen Regelung für Erbfälle mit grenzüberschreitendem Bezug bestehe, erfordere dessen Verwirklichung die Harmonisierung der Vorschriften über die internationale Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte sowohl bei streitigen als auch bei außerstreitigen Verfahren.

Die Auslegung von Art. 4 der Verordnung, wonach diese Bestimmung die internationale Zuständigkeit der Gerichte der Mitgliedstaaten für die Verfahren zur Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse festlegt, wirke im Interesse einer geordneten Rechtspflege innerhalb der Union auf die Verwirklichung dieses Ziels hin, indem sie die Gefahr von Parallelverfahren vor den Gerichten der verschiedenen Mitgliedstaaten sowie von daraus resultierenden Widersprüchen einschränkt.

Hingegen wäre die Erfüllung der mit der EuErbVO angestrebten Zwecke beeinträchtigt, wenn in einer Konstellation wie im Ausgangsverfahren die Bestimmungen des Kapitels II der Verordnung, insbesondere ihr Art. 4, dahin ausgelegt würden, dass sie nicht die internationale Zuständigkeit der mitgliedstaatlichen Gerichte für die Verfahren zur Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse regeln.

Aus all diesen Erwägungen folge, dass Art. 4 der EuErbVO dahin auszulegen ist, dass er einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats wie der im Ausgangsverfahren entgegensteht, die vorsieht, dass, auch wenn der Erblasser zum Zeitpunkt seines Todes seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in diesem Mitgliedstaat hatte, dessen Gerichte ihre Zuständigkeit für die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse im Zusammenhang mit einem Erbfall mit grenzüberschreitendem Bezug behalten, wenn Nachlassvermögen auf dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats belegen ist oder der Erblasser dessen Staatsangehörigkeit besaß.

III. Fazit

Die Entscheidung des EuGH kann ohne weiteres als Paukenschlag bezeichnet werden und klärt die seit Inkrafttreten der EuErbVO umstrittene Frage, ob die EuErbVO bei Erbfällen mit grenzüberschreitendem Bezug auch die internationale Zuständigkeit für die Ausstellung nationaler Erbscheine regelt.

Entgegen der wohl überwiegenden Auffassung in der Literatur bejaht der EuGH in Übereinstimmung mit dem Generalanwalt die Anwendbarkeit der EuErbVO diesbezüglich. Eine Anwendung von §§ 105, 343 Abs. 3 FamFG kommt insofern nicht mehr in Betracht.

Art. 4 der EuErbVO bestimmt somit die internationale Zuständigkeit der nationalen Gerichte auch für Verfahren über die Ausstellung der nationalen Nachlasszeugnisse. Dies gilt unabhängig davon, ob die Ausstellung in einem streitigen oder außerstreitigen Verfahren erfolgt. Auch das deutsche Erbscheinsverfahren ist somit hierunter zu fassen. Die Tatsache, dass für das Europäische Nachlasszeugnis u.a. mit Art. 64 der EuErbVO Sondervorschriften bestehen, ändert hieran nichts.

Die weiteren Folgen dieser Rechtsprechung bleiben indes abzuwarten.


Rezension des Urteils des EuGH v. 21.06.2018 - C-20/17(Oberle) „Nationaler Erbschein / Zuständigkeit / EuErbVO", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.9 September 2018, S.495 ff


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