Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings, Begriff des Hinterlassenen i.R.v. § 2309 Var. 2 BGB

Leitsatz:

Als „hinterlassen“ i.S. des § 2309 Var. 2 BGB gelten nicht letztwillige oder lebzeitige Zuwendungen des Erblassers an den näheren, trotz Erb- und Pflichtteilsverzichts zum gewillkürten Alleinerben bestimmten Abkömmling, wenn dieser und der entferntere Abkömmling demselben, allein bedachten Stamm gesetzlicher Erben angehören.

BGH, IV ZR 239/10, Urteil vom 27.06.2012 (OLG München, 13.10.2010, Az: 27 U 419/07; LG Augsburg, 15.06.2007, Az: 9 O 477/06)

BGB § 2309 Var. 2

I. Einführung

Die Klägerin machte gegen ihre Mutter (die Beklagte) Pflichtteilsansprüche i.H. der Hälfte des Nachlasswertes geltend, nachdem deren Vater am 20.02.2005 verstorben war.

Der Erblasser und die Mutter der Beklagten setzten sich im, in notarieller Form errichteten gemeinschaftlichen Testament vom 23.11.1987, jeweils gegenseitig zu alleinigen und ausschließlichen Erben und ihre Enkel zu Schlusserben ein. Dem Überlebenden des Erstverserbenden wurde jedoch bzgl. der Schlusserben eingeräumt:

„…, über seine Beerbung neue von Ziffer III. dieser Urkunde abweichende Bestimmungen zu treffen; er darf dabei aber letztwillig immer nur solche Personen bedenken, die zum Kreis unserer gemeinschaftlichen Abkömmlinge oder deren Abkömmlinge gehören.“

Noch am selben Tag verzichtete die Beklagte gegenüber ihren Eltern (nicht aber für ihre Abkömmlinge) auf den ihr zustehenden gesetzlichen Erb- und Pflichtteil.

Nach dem Tod der Ehefrau setzte der Erblasser mit notariellem Testament vom 17.10.2000 die Beklagte zu seiner alleinigen und ausschließlichen Erbin und die Klägerin zu Ersatzerben ein. Sonstige Abkömmlinge waren nicht vorhanden.

Mit ihrer Klage verlangt die Klägerin nun Zahlung von 85.000 Euro nebst Zinsen, Auskunft über den Bestand des Nachlasses, sowie Einholung eines Wertermittlungsgutachtens bzgl. des Grundvermögens.

Streitig ist zwischen den Parteien, ob der Pflichtteilsberechtigung nicht § 2309 BGB entgegensteht.

Die Klage hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg.

II. Problem

Der BGH erachtet die Revision als begründet.

Das Berufungsgericht sei noch richtigerweise davon ausgegangen, dass die Klägerin, aufgrund des Erb- und Pflichtteilsverzichts der Beklagten, zur gesetzlichen Erbin berufen gewesen sei. Sie sei jedoch wirksam enterbt worden.

Ihren Pflichtteilsanspruch habe die Klägerin jedoch gem. § 2309 Var. 2 BGB verloren. Der darin geregelte Ausschluss beziehe sich nicht auf die jeweilige, konkrete Situation, sondern auf die abstrakte Erbenstellung des näheren Abkömmlings. Da die Beklagte die Erbschaft angenommen habe, sei die „Vorversterbensfiktion“ des § 2346 Abs. 1 BGB gegenstandslos geworden.

Der BGH beurteilt dies anders. Der Anwendungsbereich des § 2309 Var. 2 BGB sei vielmehr nach dessen Sinn und Zweck zu bestimmen. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht in der Annahme des testamentarisch zugewendeten Erbes eine auf den Pflichtteilsanspruch anzurechnende Entgegennahme des der Beklagten „Hinterlassenen“ im Sinn der Vorschrift gesehen.

Die Klägerin sei gem. § 2303 Abs. 1 BGB pflichtteilsberechtigt. Die Beklagte sei zwar näherer und damit gem. § 1924 Abs. 2 BGB grundsätzlich vorrangiger Abkömmling des Erblassers, jedoch gilt sie infolge ihres Erb- und Pflichtteilsverzichts gem. § 2346 Abs. 1 S. 2 HS. 1 BGB als vorverstorben. Die Klägerin als ihre Tochter trete somit an ihre Stelle in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge ein. Durch das notarielle Testament des Großvaters der Klägerin, wurde ihr diese Position entzogen.  Auch der Erbverzicht der Beklagten konnte den Großvater der Klägerin nicht daran hindern, diese als Erbin einzusetzen. In der Folge habe die Klägerin einen originärer Pflichtteilsanspruch erhalten.

Dieser Anspruch könne jedoch gem. § 2309 BGB wieder ausgeschlossen sein.

Zutreffend sei es, dass die Fiktion des § 2346 Abs. 1 S. 2 HS. 1 BGB dem Vorrang des näheren Abkömmlings im Rahmen der fiktiven gesetzlichen Erbfolge des § 2309 BGB nicht entgegenstehe. Die Rangfolge der hypothetischen gesetzlichen Erben bestimme sich hier abstrakt und nicht nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Dies folge schon aus der Verwendung des Konjunktivs im Wortlaut der Norm, „ausschließen würde“. Daneben begründe allein § 2303 BGB das Pflichtteilsrecht des entfernten Abkömmlings als Ausgleich für ein ihm „gewissermaßen (geschehenes) Unrecht“.

Hingegen sei § 2309 BGB ein Beschränkungstatbestand, welcher das Nachrücken eines in der gesetzlichen Erbfolge entfernteren Berechtigten mit der Folge des § 2303 Abs. 1 S. 1 BGB voraussetzt.

Der BGH begründet dieses Ergebnis weiterhin auch mit Blick auf die Motive und die Entstehungsgeschichte der Vorschriften zum Pflichtteil und zum Erbverzicht. Auch mit dem neuen Wortlaut des § 2309 BGB sei der Gesetzgeber für den Fall des verzichtsbedingten Aufrückens eines entfernteren Abkömmlings in die gesetzliche Erb- und Pflichtteilsfolge nicht von dem Prinzip abgekehrt, Doppelbegünstigungen des Stammes des ausgeschiedenen, grundsätzlich vorrangig Berechtigten, sowie Vervielfältigungen der auf dem Nachlass liegenden Pflichtteilslast zu verhindern. Für die Abkömmlinge des Erblassers bedeute dies, dass „demselben Stamm nicht zwei Pflichtteile, aber auch nicht [ein] Pflichtteil neben einer Zuwendung“ gewährt werden dürfen / darf.

Das Berufungsgericht habe somit zu Unrecht einen Ausschluss der Pflichtteilsberechtigung der Klägerin angenommen. Zwar sei § 2309 Var. 1 BGB aufgrund des verzichtsbedingten Wegfalls des Pflichtteilsrechts der Beklagten nicht einschlägig, jedoch seien auch die Voraussetzungen von § 2309 Var. 2 BGB nicht erfüllt.

Die von Todes wegen zugewandte Erbschaft könne nicht als etwas „Hinterlassenes“ i.S.v. § 2309 Var. 2 BGB aufgefasst werden.

Die Bedeutung des Begriffs sei jedoch umstritten. Nach allgemeiner Ansicht könnten letztwillige Zuwendungen des Erblassers an den näheren Abkömmling, selbst wenn dieser auf sein Erb- und Pflichtteilsrecht verzichtet, als hinterlassen gelten. Aufgrund des allgemein gehaltenen Gesetzeswortlauts sei nach überwiegender Ansicht eine einschränkende Auslegung (nur Zuwendungen die zur Befriedigung oder Abwendung eines sonst bestehenden Pflichtteilsanspruch gemacht werden) ebenso abzulehnen, wie eine Differenzierung nach den Gründen aus denen der nähere Abkömmling weggefallen ist. Überwiegend werde auch eine Anwendung auf lebzeitige Zuwendungen befürwortet.

Der BGH lässt die Details dieses Meinungsstreits hier offen.

Vorliegend sei mit der Beklagten und der Klägerin nur noch ein Stamm des Erblassers vorhanden. In einer solchen Konstellation sei § 2309 Var. 2 BGB einschränkend auszulegen. Letztwillige oder lebzeitige Verfügungen an den näheren Abkömmling könnten hier nicht als anrechnungspflichtiges „Hinterlassenes“ i.S.v. § 2309 Var. 2 BGB gelten, da keine Doppelbelastung des Nachlasses in Betracht komme.

Entscheidend bei der Auslegung sei der Wille des Gesetzgebers im Rahmen der anerkannten Auslegungsmethoden. Nach der Entstehungsgeschichte und dem Sinn und Zweck der Vorschrift solle § 2309 BGB einen eigenständigen und vererbbaren Anspruch der Abkömmlinge, Eltern und Ehegatten des Erblassers auf den Pflichtteil, welcher gemäß § 2303 BGB an die Stelle ihres mit Verfügung von Todes wegen entzogenen gesetzlichen Erbteils trete, beschränken, um zu verhindern, dass demselben Stamm zweimal ein Pflichtteilsrecht gewährt und die auf dem Nachlass ruhende Pflichtteilslast dadurch erhöht werde.

Die vorliegende Erbfolge, werde von diesem Zweck jedoch nicht erfasst. Liegt wie hier nur ein einziger Stamm vor, so berühre die Zuwendung des Erblassers an den näheren Berechtigten lediglich das Innenverhältnis des Stammes. Die Gefahr der unbilligen Vervielfältigung der Pflichtteilslast bestehe ebenso wenig, wie die Gefahr, dass ein Stamm zum Nachteil anderer Beteiligter einen höheren Pflichtteil erhalten könnte.

Schuldner der Pflichtteilsansprüche des entfernteren Berechtigten sei der nähere Abkömmling als gewillkürter Erbe.  Dieser profitiere von der Entlastung des Nachlasses durch § 2309 BGB. Weiterhin sei er Empfänger derjenigen den Nachlass mindernden Leistungen des Erblassers. Würde man diese Leistung nun § 2309 Var. 2 BGB zuordnen, so würde sich die Pflichtteilslast des näheren Abkömmlings verringern. Er wäre insoweit, ohne dass der Normzweck dies erfordere, doppelt begünstigt.

Auch unter Berücksichtigung der Testierfreiheit des Erblassers ergebe sich hier kein anderes Ergebnis. Auch wenn der auf die Person des näheren Abkömmlings bezogene Erb- und Pflichtteilsverzicht den Erblasser in die Lage versetzen solle, über seinen Nachlass frei und durch das Pflichtteilsrecht unbeeinflusst verfügen zu können, so werde diese Freiheit wiederum durch den originären, dem entfernteren Abkömmling zustehenden Pflichtteilsanspruch eingeschränkt.

Dies entspreche weiterhin auch der in §§ 2349 HS. 2, 2351 BGB zum Ausdruck gebrachten Wertung. Beruhe die Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings auf einem Erb- und Pflichtteilsverzicht eines näheren Abkömmlings, so stehe diese Pflichtteilsberechtigung nur mittels eines zweiseitigen Aufhebungsvertrags zur Disposition. Die testamentarische Verfügung des Erblassers vom 17.10.2000 sei hierfür keinesfalls ein Ersatz.

Das Berufungsurteil war somit aufzuheben. Im Übrigen war der Rechtsstreit noch nicht entscheidungsreif.

III. Fazit

Die Entscheidung bringt Klarheit in Bezug auf einige Einzelfragen im Rahmen von § 2309 Var. 2 BGB. Vor allem bei Erbfällen bei denen nur ein Stamm vorhanden ist, ist eine am Sinn und Zweck der Norm orientierte Auslegung nötig. Besonderes Augenmerk ist hier auf die Frage zu legen, ob tatsächlich die Gefahr einer echten Doppelbelastung- oder Berechtigung besteht.

Viele Streitfragen bleiben jedoch auch nach der Entscheidung des BGH noch offen.


Rezension des Urteils des BGH v. 27.06.2012 - IV ZR 239/10 - OLG München zur „Pflichtteilsberechtigung des entfernteren Abkömmlings / Begriff des Hinterlassenen i.R.v. § 2309 Var. 2 BGB", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.10 Oktober 2012, S. 564 ff

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