Pflichtteilsergänzungsansprüche von Abkömmlingen

Leitsatz:

Der Pflichtteilsergänzungsanspruch – hier eines Abkömmlings – nach § 2325 Abs. 1 BGB setzt nicht voraus, dass die Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestand (Abkehr von den Senatsurteilen vom 21. Juni 1972, IV ZR 69/71, BGHZ 59, 210 und vom 25. Juni 1997, IV ZR 233/96, ZEV 1997, 373).

BGH, IV ZR 250/11, Urteil vom 23.05.2012 (OLG Hamm, 11.10.2011, Az: I-10 U 97/09; LG Münster, 20.07.2009, Az: 12 O 27/09)

BGB § 2325 Abs. 1

I. Einführung

Die Klägerin zu 1) und der Kläger zu 2) machten gegen die Beklagte, ihre Großmutter, im Wege der Stufenklage Pflichtteils- und Pflichtteilsergänzungsansprüche geltend, nachdem der Großvater im Jahre 2006 verstorben war. Die im Güterstand der Gütertrennung lebenden Großeltern hatten vier Kinder, worunter auch die vorverstorbene Mutter der Kläger war. In ihrem 2002 errichteten, gemeinschaftlichen Testament setzten sich die Großeltern jeweils gegenseitig zu alleinigen und befreiten Vorerben, sowie ihre noch lebenden Kinder als Nacherben des Erstversterbenden und Erben des Letztversterbenden ein.

Nach dem Tod des Großvaters (Erblasser) verlangten die Kläger von der Großmutter Auskunft über den Bestand des Nachlasses und den Wert der zum Nachlass gehörenden Immobilien. Nach einem Schriftwechsel zwischen den Parteien wurde am 21.08.2007 ein Termin zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung angesetzt. Aufgrund von Streitigkeiten zwischen den Parteien über den Umfang der Auskunftsverpflichtung wurde eine solche jedoch nicht abgegeben.

Die Kläger beantragten am 19.01.2009 Prozesskostenhilfe für eine von ihnen beabsichtigte Klage. In dieser wollten sie die Beklagte auf Zahlung von 3.501,33 Euro in Anspruch nehmen und daneben im Wege der Stufenklage Auskunft durch Vorlage eines notariell aufgenommenen Verzeichnisses, Abgabe der eidesstattlichen Versicherung und Zahlung verlangen. Die Beklagte zahlte daraufhin noch vor Zustellung der Klage 3.501,33 Euro an die Kläger.

Das Landgericht gab der Auskunftsklage statt und stellte daneben fest, dass die Beklagte die durch die Klageeinreichung verursachten Kosten hinsichtlich des ursprünglichen Zahlungsantrags zu tragen habe. Im Übrigen wurde die Klage vom Landgericht abgewiesen.

Die Beklagte legten hiergegen Rechtsmittel ein, woraufhin das Berufungsgericht diese, im Bezug auf den Feststellungsantrag, als unzulässig verworfen hat. Im Übrigen, abgesehen von dem Antrag auf Wertermittlung, wurden die Rechtsmittel der Klägerin zurückgewiesen. Bezüglich der noch nicht gestellten Klageanträge (eidesstattliche Versicherung und Zahlung) wurde das Urteil des Landgerichts aufgehoben und an dieses zurückverwiesen.

Mittels der Revision verfolgte die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

II. Problem

Der BGH erachtete die Revision der Klägerin als nicht erfolgreich.

Das Berufungsgericht habe das Rechtsmittel der Beklagten gegen die vom Landgericht ausgesprochene Feststellung der Kostentragungspflicht (bzgl. des ursprünglich angekündigten Zahlungsantrags) mangels Begründung als unzulässig abgewiesen. Nach dem Landgericht sei die Berufung wiederum, soweit sie die Auskunftsverpflichtung betroffen habe, unbegründet. Den Klägern stehe nach Ansicht der Berufungsinstanz ein (nicht verwirkter) Anspruch auf Vorlage eines notariell aufgenommenen Verzeichnisses zu, § 2314, Abs. 1 S. 3 BGB. Hierin seien auch die lebzeitigen Schenkungen des Erblassers in den letzten Jahren vor seinem Tod zu erfassen.

Ergänzungspflicht nach § 2325 BGB und Auskunftsanspruch würden auch Schenkungen erfassen, welche der Erblasser vor der Geburt der pflichtteilsberechtigten Kläger getätigt habe. Allein entscheidend sei nach Ansicht des Berufungsgerichts, ob die Pflichtteilsberechtigung zum Zeitpunkt des Erbfalls bestand. Sinn und Zweck von § 2325 BGB sei es den nächsten Angehörigen die verfassungsrechtlich geschützte (Art. 14, Art. 6 GG) Teilhabe am Nachlass zukommen zu lassen. Eine bestimmte Erwerbserwartung werde trotz § 2325 Abs. 3 BGB nicht geschützt.

Eine Differenzierung danach, ob zum Zeitpunkt der Schenkung schon eine Pflichtteilsberechtigung bestand, sei zufällig und liefe im Fall von nachgeborenen Abkömmlingen dem Sinn und Zweck der Vorschrift zuwider. Eine Erwerbserwartung oder Schutzbedürftigkeit der Pflichtteilsberechtigten sei ohne Bedeutung. Im Übrigen sei das Urteil des Landgerichts gem. § 538 Abs. 2 Nr. 4 ZPO aufzuheben und zurückzuverweisen. Nach Ansicht des Berufungsgerichts habe das Landgericht verfahrensfehlerhaft über die komplette Stufenklage entschieden, obwohl, abgesehen vom bereits erhobenen Zahlungsanspruch, nur der Auskunftsanspruch gestellt worden sei.

Der Senat erachtet die Ausführungen des Berufungsgerichts als zutreffend.

Richtigerweise habe das Berufungsgericht das Rechtsmittel der Beklagten gegen die im landgerichtlichen Urteil ausgesprochene Feststellung der Kostentragungspflicht mangels Begründung (§ 520 Abs. 3 ZPO) als unzulässig verworfen. Dem Feststellungsantrag habe eine Zahlungsklage zugrunde gelegen, welche unabhängig von der Auskunftserteilung gewesen sei. Dieser Antrag wurde vom Landgericht nach der Zahlung der Beklagten als begründet erachtet, da sie durch die Zustellung des Klageentwurfs im Prozesskostenhilfeverfahren in Verzug gekommen sei. Diese Feststellungen seien von der Beklagten nicht angegriffen worden. Allgemeine Ausführungen am Anfang der Berufungsbegründung (Urteil halte Überprüfung nicht stand, sei fehlerhaft, Hauptantrag sei aufzuheben) würden hierfür nicht genügen.

Da die Kläger Pflichtteilsberechtigte nach ihrem Großvater seien, stehe ihnen ein Auskunftsanspruch über den Bestand des Nachlasses mittels eines notariell aufgenommenen Verzeichnisses gem. § 2314 Abs. 1 S. 3 BGB zu. Dass die Beklagte bereits mehrfach privatschriftliche Auskünfte erteilt habe, stehe dem nicht entgegen, da die verschiedenen Arten der Auskunftsansprüche nach § 2314 Abs. 1 BGB sowohl nach dem Wortlaut, als auch nach Sinn und Zweck nicht in einem Alternativverhältnis stünden. Gleichfalls sei der Anspruch nicht gem. § 242 BGB verwirkt. Ein Recht sei erst dann verwirkt, wenn es der Berechtigte längere Zeit nicht geltend gemacht habe und sich der Verpflichtete darauf eingestellt habe, dass es der Berechtigte nicht mehr geltend mache und sich hierauf auch einrichten durfte. Ein solcher Fall sei vorliegend nicht gegeben, insbesondere genüge das Verhalten der Kläger nach der privatschriftlichen Auskunftserteilung der Beklagten (zwei Jahre dauerndes Warten bis zum Prozesskostenhilfeantrag für die Auskunftserteilung mittels notariell aufgenommenen Verzeichnisses) nicht. Die Kläger hätten weder zu erkennen gegeben, dass sie mit der Auskunft zufrieden seien, noch, dass sie auf ein notarielles Verzeichnis verzichten. Darüber hinaus bescheinigt die gescheiterte eidesstattliche Versicherung vom 21.08.2007, dass weiterhin Streit über die Auskunftspflicht bestand. Die Klägerin habe vor Klageerhebung auch keine Zahlungen an die Kläger geleistet, welche ein solches Vertrauen begründen könnten.

Der Senat führt weiter aus, dass sich die Auskunftspflicht über den Nachlass nicht nur auf dessen Bestand, sondern auch auf sonstige, für den Pflichtteil relevante, Faktoren wie Schenkungen gem. § 2325 BGB und unbenannte Zuwendungen der Ehegatten erstrecke.

Der BGH stellt fest, dass sich der Pflichtteilsergänzungsanspruch der Kläger auch auf solche unentgeltlichen Zuwendungen beziehe, die der Erblasser vor deren Geburt vorgenommen habe. Der Anspruch setze nicht voraus, dass die Pflichtteilsberechtigung sowohl im Zeitpunkt des Erbfalls als auch schon zum Zeitpunkt der Schenkung bestand. Die Theorie der sog. Doppelberechtigung werde aufgegeben.

Allein relevant sei die Pflichtteilsberechtigung zum Zeitpunkt des Erbfalls. Dem Wortlaut des § 2315 Abs. 1 BGB lasse sich schon nichts gegenteiliges entnehmen. Auch die Entstehungsgeschichte spräche dafür, dass allein die Pflichtteilsberechtigung zum Zeitpunkt des Erbfalls relevant sei, da § 2009 des ersten Entwurfs des BGB noch ausdrücklich eine Berechtigung zum Zeitpunkt der Schenkung vorsah, dies jedoch später von der Kommission abgelehnt wurde.

Die Änderungen der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sind nach Ansicht des Senats für die vorliegende Frage irrelevant. Sie hätten in den Beratungen der Kommission keine Rolle gespielt.

Auch der Grundgedanke der Regelung, die Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen des Erblassers, spreche gegen das Erfordernis einer Doppelverpflichtung. Der Pflichtteilsergänzunganspruch wegen erfolgter Schenkungen gegen den Erben bzw. Beschenkten nach §§ 2325, 2329 BGB soll eine Verkürzung dieses Teilhabeanspruchs verhindern. Die Pflichtteilsberechtigung zum Zeitpunkt des Erbfalls sei hierfür ohne Bedeutung. Gleichfalls unerheblich sei, dass der nach der Schenkung pflichtteilsberechtigt Gewordene beim Erblasser nie andere Vermögensverhältnisse kennengelernt habe. Dies könne auch bei nicht ehelichen oder jungen Kindern sowie Kindern geschiedener oder getrennt lebender Eltern der Fall sein, sei dort aber ohne weitere Bedeutung. Zudem seien subjektive Elemente wie Kenntnis, Eingewöhnen oder fehlende oder bestehende Absichten der Vorschrift des § 2325 Abs. 1 BGB allgemein fremd.

Eine gegenteilige Ansicht führe auch zu einer mit Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu vereinbarenden Ungleichbehandlung von Abkömmlingen. Kinder würden nach § 1924 Abs. 4 BGB zu gleichen Teilen erben, dies stehe eine Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Geburt (vor oder nach der Schenkung) entgegen. Ein Grund für eine Differenzierung bestehe nicht, die Pflichtteilsberechtigung beruhe gerade auf keinem Dispositionsakt, sondern lediglich auf ihrer Geburt.

Auch § 2325 Abs. 3 BGB könne nicht als Rechtfertigung des Erfordernisses einer Doppelberechtigung herangezogen werden. Die Vorschrift befasse sich gerade nicht mit der Pflichtteilsberechtigung dem Grunde nach.

Weiterhin habe das Berufungsgericht, soweit es die nicht gestellten Klageanträge (eidesstattliche Versicherung und Zahlung im Rahmen der Stufenklage) betrifft, diese zu Recht aufgehoben und an das Landgericht zurückverwiesen. Eine Entscheidung über diese Anträge sei noch nicht in Betracht gekommen, da diese noch nicht gestellt worden seien. Das Landgericht habe in einem Schreiben auch weiterhin mitgeteilt, dass über diese Anträge noch nicht entschieden werden sollte und eine zu korrigierende offensichtliche Unrichtigkeit i.S.v. § 319 ZPO vorläge. Zu dieser Korrektur sei es jedoch nicht mehr gekommen.

Soweit das Berufungsgericht nicht von einem Fall des § 319 ZPO ausging und das klageabweisende Urteil des Landgerichts aufgehoben und zurückverwiesen hat, liegt nach Ansicht des Senats auch kein Verstoß gegen das Verschlechterungsverbot der „reformatio in peius“ oder die Bindung an die Berufungsanträge gem. § 528 ZPO vor. Der Beklagten wurde nichts zugesprochen, was ihr durch das Berufungsgericht wieder genommen worden sei. Es handele sich lediglich um eine Klarstellung, dass über die weiteren Anträge erst nach Erteilung der Auskunft zu entscheiden sei.

III. Fazit

Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist von besonderer Bedeutung. Sie stellt eine Abkehr von dem Jahrzehnte geltenden Prinzip der Doppelberechtigung im Rahmen von § 2325 Abs. 1 BGB dar.

Zukünftig ist es in der Praxis für Pflichtteilsergänzungsansprüche nach § 2325 Abs. 1 BGB ohne Belang, ob die Pflichtteilsberechtigung bereits zum Zeitpunkt der Schenkung gegeben war. Allein entscheidend ist die Pflichtteilsberechtigung zum Zeitpunkt des Erbfalls.

In Folge der Entscheidung mag es nun in Einzelfällen zu einem erhöhten Aufwand bei der Erfüllung der Auskunftsverpflichtung kommen.


Rezension des Urteils des BGH v. 23.05.2012 - IV ZR 250/11 zu „Pflichtteilsergänzungsansprüche von Abkömmlingen", in: FuR - Familie und Recht - Zeitschrift für Fachanwalt und Familiengericht, Nr.11 November 2012, S. 623 ff


Wie kann ich Ihnen als Fachanwalt für Erbrecht weiterhelfen?

Zurück